Eine Million sechshundertdreitausend siebenhundertsechsundsiebzig – für so viele Menschen ist München ihr Zuhause. Dabei geht es um mehr als bloß den Wohn- und Arbeitsort. In jedem Stadtteil gibt es diese Ecken, die das Viertel erst so richtig besonders machen. Sie stehen nicht im Scheinwerferlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit, nicht in den Reiseführern unserer Stadt. Hier passiert das tägliche Leben. Beim Friseurtermin erfahren wir, dass die Wollverkäuferin nebenan in Rente geht. Am Kiosk diskutieren wir, warum alles teurer wird. Und am Tresen in der Eckkneipe kommen alle bei einem Feierabendgetränk zusammen: All das sind Dritte Orte. Sie sind gewachsen, nicht gewollt und entstehen durch die Menschen, die Du dort findest. Es gibt sie kein zweites Mal.
Den Begriff "dritte Orte"
prägte (unter anderen) der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg. Gemeint sind jene Orte neben dem Zuhause und der Arbeit oder Ausbildung, an denen wir gern unsere Zeit verbringen, die für unser soziales Leben von Bedeutung sind. Lebendige Orte, an denen wir für uns sind und trotzdem nicht allein. Orte an denen wir einander ungezwungen treffen, ganz ohne Verabredung. Umschlagplätze für Meinungen und Ideen. Sie machen die Identität unserer Stadt und ihrer Viertel aus. Und sind unverzichtbar für eine lebendige Demokratie.
Dritte Orte – das ist hier kein Konzept, keine Regel, sondern ein Bedürfnis. Die Frage ist: Für wen bedeutet das eigentlich was? Neben vermeintlich unspektakulären alltäglichen Orten, an denen sich Gesellschaft mischt, können das auch subkulturelle Räume sein oder auch Orte, an denen gerade kein sozialer Austausch stattfindet. Wenn man beispielsweise an die Bedürfnisse von Menschen mit sozialen Ängsten oder solchen, die schlicht und einfach erschöpft sind, innerhalb von Städten denkt, kann eine Bank im Friedhof zum dritten Ort werden.
Gemeinsam entsteht ein lebendiges Archiv
Manche dieser Orte existieren nicht mehr. Vielleicht mussten sie Luxuswohnungen weichen. Oder die Besitzerin konnte keinen Nachfolger finden. Aber die selbstgemachten Pommes, das kleine, vollgestopfte Schaufenster, der unverwechselbare Geruch oder der letzte Abend bleiben in Erinnerung. Vergangene Orte wollen wir genauso festhalten wie die, die es glücklicherweise (noch) gibt. Gerade jetzt verschwinden sehr viele dieser Orte. Was bleibt, ist eine kleine Notiz in der Zeitung, manchmal auch nichts. Und immer wieder kommen neue Orte hinzu. Manche von ihnen haben nur für bestimmte Teile unserer Gesellschaft eine besondere Bedeutung, als Rückzugsort, an dem man sich wohl fühlt und nicht erklären muss. Was ein dritter Ort ist, definieren hier die Menschen, die ihn nutzen.
Wir wollen aber nicht nur erinnern, festhalten und konservieren.
Wir wollen auch utopisch denken: Wie könnte man den seit Monaten verwaisten Karstadt wieder mit Leben füllen, was bräuchte es, um aus der kargen Grünfläche oder dem Denkmal nebenan einen Ort zu machen, an dem Du gerne Zeit verbringst? Gibt es Projekte oder Ideen in anderen Städten, die man hier auch ausprobieren könnte?
Wir begeben uns auf die Suche: mit Dir, mit Euch, für alle.
Bei all dem bist Du und dein eigener Blick auf die Stadt gefragt: Du erinnerst Dich an einen dritten Ort, der nicht mehr ist? Du willst, dass Dein dritter Ort archiviert wird, solange es ihn noch gibt? Oder Du kennst Projekte aus anderen Städten oder hast Ideen, für Orte, die dieser Stadt gut tun würden? Jede:r kann mitmachen – mit mehr oder weniger Zeit, als Ideengeber:in, Zeitzeug:in oder Stadtforscher:in.
Ein Archiv von Unten
Weil alle beitragen und selbst entscheiden können, was genau und wie sie die Orte und Visionen erfahrbar machen, entsteht ein vielstimmiges Archiv, das allen offensteht – ein Archiv von unten. Jede Eintragung trägt zur kollektiven Kartografie jener vergessenen oder übersehenen Orte bei.
Gemeinsam dokumentieren wir die Vielfalt,
aber auch die Verletzlichkeit dieser dritten Orte, indem wir die Stadt zu ihren Strukturen, Geschichte(n) und Funktionsweisen befragen. Wer oder was macht diesen Ort so besonders, warum ist er für manche so wichtig? Warum müssen Orte weichen, wie schaffen es andere, zu bleiben? Nur gemeinsam wird sichtbar, was es gab, gibt und geben sollte.
Das Archiv kann auf ganz unterschiedliche Art gefüllt werden. Es erzählt Orte über ihre Menschen, ihre Atmosphäre, ihre Gegenstände. Inspiration bietet Dir die "Kartografie der Dinge", eine künstlerisch-forschende Arbeitsweise, die Miriam Worek entwickelt hat.
Mitwirkende
Im Dritte*Orte Archiv steckt sehr viel Entwicklungsarbeit, Zeit und Herz von Menschen, denen diese Orte wichtig sind. Miriam Worek hatte die Idee, aus der sie Konzept, Bausteine und die "Kartografie der Dinge" entwickelt. Basis sind langjährige Recherchen, ihr Projekt ZEITKAPSEL sowie eine eigene künstlerisch-forschende Arbeit zu Orten. Carina und Marisa Müller (Studio MLLR) haben das digitale Archiv realisiert und die vielen Bausteine gestaltet.
Die Künstlerin Siyoung Kim hat die Forscher:innenwesten entworfen. Moritz Frisch macht Fotos und Kamera, hier kannst du unseren kleinen Film zum Projekt sehen. Benedikt Karl hat das Archiv in Worte gefasst. Andreas Keller bearbeitet die gesammelten Audios, Scans und Videos.
Archivar:innen sind/waren: Elias Valentin Biehler, Carina Dechant, Michal Lipski, Laura Engel, Bassant Genedy und Zerlina Schweighofer. "critical friends": Morgane Remter, Miriam Blaimer, Filo Krause, Katha, Ruth Feile, Clara Holzheimer, Jessi Strixner, Katharina Böhm.
Das Dritte*Orte Archiv für meine Stadt, Gemeinde oder Dorf anfragen.
Das Archiv wird in Zukunft weiterwachsen. Meldet euch gerne bei Miriam Worek, wenn ihr Teil des Dritte*Orte Archivs werden wollt: hello@dritteortearchiv.com.